Schickt mir die Source-Files!
Stellen Sie sich vor, sie besitzen ein Restaurant und der Gast möchte nach dem Zahlen all ihre Rezepte haben. Am liebsten kostenlos. Das müsse doch mit der Rechnung abgegolten sein. Sie meinen, so etwas komme in der Praxis nicht vor? Willkommen in unserer Branche! Die Übergabe von Quellen- oder Rohdateien (Source-Files, offene Daten) wird von manchen Agenturkunden als vermeintlich selbstverständlich betrachtet.
„Schickt mir die Source-Files“
Ein Satz mit Konfliktpotential zwischen Kundin/Kunde und Agentur. Warum ist das eigentlich so? Ist es nicht völlig klar, dass man „alles“ bekommt, wenn man zahlt? Oder sollte andererseits jeder verstehen, dass man „nur“ das Ergebnis bezahlt? In diesem Beitrag erkläre ich die Hintergründe der Problematik und zeige Lösungswege auf.
Was sind Source-Files?
Source-Files sind Quelldateien. Also jene Dateien, aus denen am Ende das entsteht, was veröffentlicht wird und was Anwender sehen. Das gilt gleichermaßen für Bildkompositionen, Videos, Druckwerke oder Websites. Ein kleines Postingbild auf Facebook kann aus dutzenden übereinandergelegten Bildebenen und Effekten bestehen. Und eine Seite im Internet wird aus Code generiert, den man über die Funktion „Quelltext ansehen“ in jedem Webbrowser aufrufen kann.
Allerdings wird dieser Code im Hintergrund wiederum von einem tieferliegenden Quellcode erzeugt, der von außen über den Webbrowser nicht sichtbar ist. Zusammengefasst sieht man also immer nur das Ergebnis, nicht wie es gemacht wurde. So wie man im Restaurant ein Gericht aber kein Rezept oder beim Installateur eine Reparatur aber keine Anleitung und Werkzeug erhält.
Was kaufe ich?
Grundsätzlich liefert ein Dienstleister das in Auftrag gegebene Werk. Und die Käuferin oder der Käufer erhält neben dem Werk die Nutzungsrechte für den vereinbarten Zweck. In diesem Beitrag geht es mir um das „Werk“ und nicht um die davon unabhängigen Nutzungsrechte. Um das Werk zu generieren, benötigt die Agentur unterschiedliche Dinge wie Kreativität, Know-How, Erfahrung, Werkzeuge, Vorprodukte und Zeit. Das ist eine entscheidende Feststellung. Mit dem Honorar wird nicht nur die Arbeitszeit abgegolten.
Was steckt dahinter?
Welche konkreten Dinge stecken in und hinter Source-Dateien und was bedeutet das für die Weitergabe?
Source-Dateien von Media-Dateien
In Grafik, Bildbearbeitung, Illustration und Video-Bearbeitung braucht es viele Jahre Ausbildung und Erfahrung, bis Menschen Kompositionen kreativ und schnell erstellen können. Sie nutzen spezielle Software, spezielle Effekte und Media-Datenbanken um Ihr Produkt zu kreieren. Bei Effekten und Media-Datenbanken kann es Lizenzen geben, die auf die Agentur lauten und die nicht einfach weitergegeben werden können. Im Ebenen-Aufbau der Grafik- und Videodateien steckt viel Know-How. Manche Elemente werden immer wieder verwendet.
Source-Code in der Programmierung
In der Programmierung ist die Sache nochmals eine Spur komplizierter, weil es mehrere Arten von Source-Files gibt. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick. Sie basiert dabei auf unserer üblichen Vorgehensweise. Wir setzen auf lizenzfreie Open-Source-Software und hosten Projekte immer auf Servern, die in der Verfügungsgewalt unserer Kundinnen und Kunden liegen. Andere Anbieter können restriktiver agieren.
Wir investieren jährlich viele hundert Stunden, um unsere internen Tools (letzte Zeile der Tabelle) zu entwickeln. Sie sichern die Qualität, beschleunigen die Website und erlauben schnelle Entwicklung. Dieses Know-How und dieses Toolset ist neben der Erfahrung unseres Teams ein zentraler Wettbewerbsvorteil und unser geistiges Eigentum, das keinesfalls mit der Lieferung des Werks abgegolten ist. Manche der Dinge würden anderen auch gar nicht viel nützen, weil sie anders arbeiten.
Wieso fällt Aufwand an, wenn in Einzelfällen Source-Files übergeben werden?
Manchmal kann es sinnvoll oder unumgänglich sein, einzelne Files zu übergeben, wenn Sie beispielsweise ein deutsches Postingbild durch eine chinesische Agentur lokalisieren lassen müssen. In solchen Fällen kommt neben der rechtlichen Vereinbarung noch ein praktischer Aspekt ins Spiel.
Wir müssen im Sinne unserer Kundinnen und Kunden auf Effizienz achten. D.h. wir gestalten Quelldateien je nach Anforderung mit unterschiedlichem Aufwand. Ein E-Commerce-Modul, das jahrelang im Einsatz sein wird, hat andere Anforderungen an Dokumentation und Struktur als ein Katzenbild, das einmal gepostet wird. Da werden Ebenen nicht „sprechend“ benannt und nicht alles zu 100% „aufgeräumt“. Weil es schlicht nicht wirtschaftlich wäre und nicht notwendig ist.
Selbst bestens dokumentierte und strukturierte Source-Files sind nur für uns und unsere Arbeitsweise komplett logisch aufgebaut. Sollen wir so eine Datei nun außer Haus geben, müssen wir in jedem Fall alles so „herrichten“, dass Dritte damit arbeiten können. Zusätzlich fällt fast immer Kommunikationsaufwand an.
Dienstleistung vs. Consulting
Dieser Punkt ist für manche Auftraggeberinnen und Auftraggeber ein Quell für Unmut. Es macht einen großen Unterschied, ob eine Dienstleistung oder Know-How-Transfer gekauft wird. Ob wir also eine Speise bestellen oder das Kochen dieser Speise erklärt haben wollen.
Im Normalfall liefern wir ein Screen-Design, eine Website, eine Social-Media-Strategie oder optimieren eine Werbekampagne. Wünscht jemand eine Schulung, also einen Know-How-Transfer, so muss dies vorher besprochen werden. Klarerweise schulen wir Sie zB auf ein von uns geliefertes System ein.
Ob wir jemandem aber beibringen können, unsere Arbeit zu machen, müssen wir eben vorher klären. Und im Fall des Falles greift ein deutlich höherer Consulting-Tagsatz. Weil wir dafür sehr erfahrene Mitarbeiter einsetzen, die auch didaktische Fähigkeiten haben. Außerdem würden wir vielleicht nicht mehr benötigt, wenn ausreichend Know-How übergeben wurde.
Wie können wir Missverständnisse vermeiden?
Die unangenehmste Situation: Auftrageber und Auftragnehmer gehen in der Zusammenarbeit von unterschiedlichen Erwartungen aus und plötzlich kommen ein „Schickt mir die Source-Files“ und ein „Nein“ als Antwort.
Wir achten sehr darauf, schon in der Anbahnungsphase viel zu erklären. Schon vor Vertragsabschluss sollten die gegenseitigen Erwartungen besprochen werden. Was erwarten Sie als Kundin/Kunde? Wie ist unsere Herangehensweise? Was ist möglich, was ist nicht möglich und warum? Anforderungsdefinition, Lieferbereitschaft und wirtschaftliche Rahmenbedingungen müssen zusammenspielen. Bei realistischen Erwartungen auf beiden Seiten lässt sich alles lösen! Abseits der konkreten vertraglichen Ausgestaltung bildet das Urheberrecht die Grundlage.
Ich hoffe, mit meiner Sichtweise ein bisschen Klarheit in dieses komplexe Thema zu bringen. Wie sind Ihre Erfahrungen? Haben Sie Ergänzungen?